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Ausnahmezustand

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Lore fluchte leise. Sie hatte ihren verletzen Fuß falsch aufgesetzt und prompt durchzuckte sie der Schmerz wie ein Stromschlag. Es war aber auch zu lästig. Eigentlich durfte sie den gebrochenen Fuß in den ersten beiden Wochen nach der OP überhaupt nicht belasten, aber das Gehen an Krücken war fast ein Ding der Unmöglichkeit für sie. Sie hatte sich das viel einfacher vorgestellt. Als Kind hatte sie sich einmal einen Kapselriss am Fußgelenk zugezogen und musste mehrere Wochen lang an Krücken laufen. Sie erinnerte sich noch gut daran, wie leicht ihr das gefallen war. Es hatte streckenweise sogar richtig Spaß gemacht. Ja, es war so weit gekommen, dass sie mit ihrer Freundin Hanne Wettrennen durch den Flur der Wohnung veranstaltet hatte, sie auf Krücken und Hanne ohne. Dabei hatten sie sich köstlich amüsiert.

Aber nun war alles anders. Lore hatte unterschätzt, das sie fünfundvierzig Jahre älter und etliche Kilo schwerer geworden war. Sie erschrak darüber, wie wenig Kraft sie in ihren Armen hatte. Es gelang ihr nur mit äußerster Anstrengung, ihr gesamtes Gewicht auf die Krücken zu stemmen. Auf diese Art eine größere Strecke zu laufen, gedieh zur Qual.

Der Arzt hatte ihr deshalb erlaubt, den gebrochenen Fuß vorsichtig hinten auf der Hacke aufzusetzen, dabei natürlich auch die Krücken nutzend, um den Fuß nicht zu sehr zu belasten. Aber das gelang ihr nicht immer. Überhaupt war die ganze Angelegenheit eine Geduldsprobe, die ihre Nerven fast zum Zerreißen brachte. Lore war ein ungeduldiger Mensch, bei ihr musste immer alles so schnell wie möglich gehen. Die zwangsweise Verlangsamung war für sie eine regelrechte Folterqual.

Lore sagte sich, dass sie die Gelegenheit nutzen und zu etwas mehr Ruhe finden müsse. Aber diese Vernunfterkenntnis in die Tat zu setzen, war etwas ganz anderes als alle schöne Theorie. Die kleinsten Tätigkeiten wurden ihr zur Last, und je länger der Zustand andauerte, desto schlechter wurde ihre Stimmung.

Sie warf einen Blick auf ihre Hündin Balikah, die von ihrem Platz aufgestanden war und nun schwanzwedelnd vor Lore stand und sie erwartungsvoll ansah. Das Tier wusste instinktiv, dass mit seinem Frauchen etwas nicht stimmte und versuchte sie aufzumuntern, indem sie Lore mit der Nase anstupste, zum Streicheln aufforderte und sie mit ihrem Hundestrahlen ansah. Aber Balikah litt auch unter den ausbleibenden Spaziergängen. Sie sehnte sich nach der üblichen Morgenrunde, doch Lore hatte keine andere Wahl, als sie lediglich hinaus in den Garten zu lassen. Auch jetzt öffnete sie der Hündin die Tür und schickte sie mit einem leicht grimmigen „Nun geh schon!“ nach draußen. Balikah senkte kurz den Kopf, dann fügte sie sich enttäuscht.

Lore seufzte und schloss die Türe hinter dem Hund. Dieser Zustand war wirklich unerträglich. Noch schlimmer war es, dass sie Hanne mit der Arbeit im Wortcafé vollkommen allein lassen musste. Und Lore wusste, was das hieß, auch wenn Hanne ihr gegenüber immer so tat, als sei alles kein Problem. Sie arbeiteten nun seit fast drei Jahren im Wortcafé, und wie viel Arbeit darin steckte so einen Betrieb zu führen, hatte sie sich früher gar nicht vorstellen können. Sie hatte eher eine gemütliche Idealvorstellung gehabt, von netten Gästen, angenehmen Gesprächen in entspannter Atmosphäre, Kerzenschein, leiser Musik und einem guten Glas Wein.

Stattdessen stand sie den ganzen Tag in der Küche und hatte manchmal das Gefühl, sich überschlagen zu müssen, um alle Bestellungen schnellstmöglich fertigzubekommen. Abends war sie oft völlig ausgelaugt, aber dann musste sie sich um Balikah und ihren eigenen Haushalt kümmern, und nicht nur das, sie musste für das Café einkaufen, die nächsten Tagesgerichte und Veranstaltungen planen, Papierkram erledigen, Gläser polieren und vieles mehr. All das hing nun an Hanne allein, und das, wo Hanne die Küchenarbeit im Grunde verabscheute.

Natürlich kamen Olga und Mariangela zu Hilfe und kochten zeitweise im Wortcafé. Aber Lore wusste auch, wie schwer sich Hanne mit Mariangelas dominantem Charakter tat und wie sehr sie die fettreichen und fleischlastigen Gerichte verabscheute, die Olga zubereitete. Olga war außerdem kein gesprächiger Typ, sie verrichtete ihre Arbeit mit einer Mürrischkeit, die Lore fast dumpf erschien. Die launische Mariangela hingegen plapperte ununterbrochen in ihrem schlechten, von italienischen Brocken durchsetzen Deutsch, und das in einer Lautstärke, der man sich nicht zu entziehen vermochte. Beides war für Hanne schwer auszuhalten. Hanne brauchte eine fröhliche, entspannte Atmosphäre, um auf Dauer gut arbeiten zu können.

Aber die hatten sie in letzter Zeit ohnehin immer weniger gehabt. Die sich ständig wiederholende Alltagsarbeit war zumindest für Lore zu einer Last geworden, die anfängliche Freude und der damit einhergehende Enthusiasmus waren längst verflogen. Sie ertappte sich sogar bei dem Gedanken, dass sie das Wortcafé allmählich verabscheute. Ob es Hanne genauso ging?

Vermutlich nicht. Ein gepflegtes Literaturcafé war vielleicht sogar ein bisschen mehr Hannes Traum als ihr eigener gewesen. Allerdings beschäftigten sie sich in der Realität so gut wie gar nicht mit Literatur, sondern vielmehr mit Schnittchen, Kaffeespezialitäten und Möhrenschnippeln. Ob sich Hanne das auch erträumt hatte?

Lore griff sich ein Buch und ließ sich auf ihr Sofa fallen. Wenn sie im Wortcafé schon keine Zeit zum Lesen fand, dann würde sie zumindest ihre momentane Situation ausnutzen und endlich wieder Bücher lesen. So hatte ihre Lage ja doch noch etwas Gutes.


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